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Kein Tag ohne zu zeichen
Ein großes Talent verweist auf die Wurzeln einer besonderen Kindheit und Jugend. Hier ist bereits alles angelegt,
was sich nach und nach entfaltet, über die Schrecknisse einer gewollten oder unbeabsichtigten Verhinderung hinweg.
Christiane Latendorfs Bezug zur Kunst, jener Anfangspunkt ihrer künstlerischen Entwicklung, keimte in einem
Kinderzeichenbuch, das sie ständig mit sich führte und worin sie ihre ersten Eindrücke von der Welt festhielt.
Wie andere als Kind die Nähe einer Puppe oder eines ihm lieb gewordenen Gegenstandes brauchten, so wurde diese Art infantiler
Fetisch zum Appell eines “nulla dies sine linea”*, der sie schließlich in die Arme der Kunst führte.
Ihr Gegenstand ist die Welt des Kreatürlichen, aber auch des Menschen.
Zu allem besteht eine innige Beziehung. Nichts ist angelesen, alles selbst erfahren. Und dort, wo man die Grenzen zu dem
Reich des Unbekannten, Imaginären, Unerklärlichen findet, ist sie zu Hause wie im hiesigen. In dieser und in jener Welt
gibt es keine Bedrohlichkeiten, nur ein sanftes, manchmal verwundertes Staunen.
Es ist, als zerschnitte Christiane Latendorf ihre Seele, um sie schließlich wieder neu zusammenzusetzen: Zu rätselhaften Gesichtern,
Figuren, Tieren. Die Scherenschnitte von ihr sind eigentümlich liebevolle Antworten auf das leben und sich ihr
stellende existenzielle Fragen. Dabei nimmt sie das Leben keineswegs leicht,
wie es die scheinbar mühelos wirkenden Papierschnitte vermuten lassen.
In ihrer Heimat Anklam, dem Peene-Tal, atmet sie die freie Luft eines der letzten aller deutschen Paradiese:
Tiere und Pflanzen zwischen Kummerower See und Peene-Mündung leben dort noch unbedroht.
In der Verbindung zwischen dem Ort der Kindheit und Dresden verwirklicht die Künstlerin ihren Traum von Kunst und Natur.
In ihm begegnet sie der Kreatur als Gleichberechtigte, wie Franz von Assisi den Tieren, besonders den Vögeln,
der ihnen einst im Singen Einhalt gebot um mit ihnen zu beten. Glück ist für sie die Liebe zu allen Dingen,
wo doch Seele in ihnen wohnt. Von dort her kommt Frieden und zeigt sich als Achtung und Ehrfurcht vor dem Geringsten.
In einem Tier (Pferd, Katze, Wolf) kristallisiert sich Typisches, durch genaue Beobachtung abgelauscht, der Moment,
in dem der Betrachter plötzlich alles klar wird und er nur noch schaut und sich verwundert.
Die Geste der Kreatur wird zum Gleichnis: Über die Verwandlung in Kunst spricht das Geschöpf seine eigene Sprache.
Da hebt sich anmutsvoll der Schweif eines Pferdes, dort streckt sich ein Katzentier zum Sprung,
da steht ein Hirsch am Zaubersee und spricht zu den Fischen, ein weißer Dampfer verwandelt sich in einen Fisch, der lächelt.
Den Menschen zeigt sie oft im Bild als stark kompensiertes, expressives Porträt,
in dem alle Zerrissenheit und Schönheit sich vereinen. Für Lebenssituationen,
Begegnung und Abschied, Liebe und Tod findet sie durch ihre Einfachheit berührende Bildlösungen und Gleichnisse.
In Christiane Latendorfs Arbeiten ist immer ein seltsamer Animismus eingeschrieben,
der selbst vor toten Dingen nicht halt macht und sie beseelt.
Die Künstlerin meidet aber das Vordergründig-Symbolische. Alles in ihren Arbeiten ist für sie geschehen und wahr.
Spirituelle Erfahrung und Energie haben sich übertragen,
sich im Kunstwerk realisiert und wirken als deren Gleichnisse im Betrachter fort.
Heinz Weißflog
In: Katalog “Christiane Latendorf” herausgegeben vom Ernst Rietschel-Kulturring e.V., Pulsnitz 2001, Sabine Schubert.
* "kein Tag ohne zu zeichnen"
Apelles, griechischer Maler. In: Plinius, nat. hist. 35, 84
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