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Wer hat keine Angst
vorm Schwarzen Mann?
- zu Christiane Latendorf.
... wenn ein Gilyakjäger im Walde dem Wild nachstellt, so ist es seinen Kindern zu Hause verboten,
Zeichnungen auf Holz oder im Sand zu machen. Die Pfade im dichten Wald könnten sonst so verschlungen werden
wie die Linien der Zeichnung, so daß der Jäger den Weg nach Hause nicht fände.
SIGMUND FREUD, TOTEM UND TABU
Das Erkennen einer Form sowie die Entscheidung, was dieselbe für mich im gegebenen Augenblick bedeutet -
Verheißung oder Gefahr - ist ein hochkomplexer Vorgang, der mit höchster Geschwindigkeit abläuft.
In uns.
Ständig. Rasend schnell. Vor dem Bidlschirm oder vor dem Regal im Supermarkt, im Wald vor Pilzen oder auf der
Autobahn in dunkler Nacht. Wir erkennen und reagieren emotional alias körperlich, körperlich alias emotional auf Zeichen,
bevor der langsame Verstand seine Filter aufspannt.
Mit den Gemälden, Scherenschnitten, Figuren, Handzeichnungen und der Druckgraphik von Christiane Latendorf ergeht es Betrachtern
nicht anders. Wir müssen unwillkürlich antworte, grundsätzlich antworten, aus dem Bauch heraus und aus dem Herzen. Umsomehr,
weil wir auf Zeichen aus einer Innenwelt treffen, auf Ansprache, die uns so direkt wie nur igend möglich erreicht,
die uns »hat«, bevor wir wissen, wie uns geschieht.
Diese Augen und Gesichter, diese Augentiere, diese schauenden Geister, blickfangenden Engel, sehenden Häuser,
blicktief mitnehmenden Wege, retinaresidenten Seelenvögel, die sichtlich die Sicht umschichtenden Formverschränkungen und
-verwerfungen, sind nach außen gekerhtes Allerinnerstes. Oberflächlich, schwarzweiß oder mehrfarbig bis bunt,
sofort lesbar in erster, peu á peu in zweiter und mehrfacher Instanz, vexierende, will sagen und kitzelnde, verwirrende Formen
spiegeln Inneres und führen in Inneres. Die Folge ist unmittelbare Reaktion. Etwas in uns schwingt mit (oder nicht).
Hier gibt es, norddeutsch gesagt, kein Vertun.
Trotz der variierenden Wiederkehr vieler Motive ist dies ein »Garten er Wege, die sich verzweigen«.
Die Künstlerin ist immer noch reicher als ohnehin vermutet, schon fortgeschritten, -gefahren, hat schon fortgezeichnet,
-gekritzelt in eins ihrer Skizzenbücher mit Stiften gleichgültiger Art. Hat sie nicht eben rasch ein Gedicht geschrieben,
während wir die Halbwüchsigen kaum über das Blattwerk der labyrinthischen Hecke hinausschauten, die sie angelegt hat?
Christiane Latendorf ist so reich wie ein Erden- und Himmels-, ein Weltenkind nur sein kann. Sie braucht keines und kennt
kein Tabu. (Das des Gegenübers allerdings wird sie niemals verletzen.)
Und es sieht so fröhlich, so verlockend leicht aus. Sie geht in jeden Keller hinab, und dann sehen wir sie fliegen. Und
zu beidem läd sie uns ein. Furchtlos.
Keine kluge Else, die darum bangt, was da kommen könnte. Ihr zaubrisches Bild-Theater ist ein Theatrum Mundi.
Nur wird Geschichte in in ihren Geschichten undatiert erzählt. Kurz schmecke ich der letzen Behauptung nach - erzählen
die Bilder Geschichten? Viele, nicht alle... Sogenannte historische Verantwortung findet wie gesagt nicht statt.
Wir bewegen uns in einem uneingeschränkt gültigen, ewigen Jetzt. Das schließt historische Anspielungen, das schließt
die Anwesenheit von Welt- und Kunstgeschichte, der christlichen und benachbarter Regionen nicht aus mit den jeweils vertrauten
und weniger vertrauten Zeichen, Symbolen, Konventionen. Auch nicht die Anwesenheit fremder Kulturen, manchmal als Zitat,
doch anverwandelt auch und verfremdet (das lassen wir einmal stehen).
weiter im Text lesen Sie bitte
hier
Uwe Kolbe
Rede zur Ausstellungseröffnung “Erkennbare Zeit”
in der Galerie im Geburtshaus Ernst Rietschels
gehalten von Uwe Kolbe
2009
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